Mobbing, Gewalttaten oder andere persönliche Schicksalsschläge können bei Menschen eine Opferhaltung auslösen. In den meisten Fällen ist es so, dass sich die Opfer auch noch schuldig fühlen. Sie denken, dass sie die Tat des Anderen durch ihr Verhalten ausgelöst haben. Warum?
Wem plötzlich und unerwartet Gewalt oder Missbrauch wiederfährt kommt meist in eine Opferhaltung. Opfer müssen damit klar kommen, was ihnen widerfahren ist. Typische Opferhaltungen sind:
- sich erst einmal klein machen,
- versuchen oft, sich gar unsichtbar zu machen,
- denken: bloß nicht auffallen,
- fühlen sich machtlos
- haben die Tendenz, sich selbst völlig verlieren
- zweifeln an sich
Und letztlich fühlen sich Opfer schuldig, dass sie den, die Täter irgendwie irgendwomit ermutigt hätten. Sie entschuldigen sich für all ihre „schlechten Taten“ und das Verhalten der Täter. Auch, wenn sie nicht damit einverstanden waren, wie sie behandelt wurden. Im Kopf kreisen die Fragen:
- Habe ich mich falsch verhalten?
- Womit habe ich ihn/sie ermutigt?
- War ich nicht folgsam?
- Habe ich nicht den Erwartungen entsprochen?
- Was habe ich getan?
- Warum mobbt er mich?
- Hab ich nicht ausreichend trainiert?
- War meine Kleidung zu offenherzig? ….
Oft habe ich mich gefragt, warum meine Trainerin immer nur mit mir schimpft und warum sie so schreit? Was mache ich nicht richtig? Bin ich so schlecht, dass sie mich nie loben kann? Als ich von meinem Zwangsdoping erfuhr, kreisten anfangs meine Gedanken nur um das WARUM?.
Opfer versuchen für sich einen Weg zu finden, um den Schmerz klar auszuhalten, körperlich und auch psychisch. Viele ignorieren sogar erst einmal ganz, was Ihnen passiert oder passiert ist. Ein Beispiel dafür ist das Stockholmsyndrom, wo Opfer einer Geiselnahme dadurch so mit dem Täter sympathisieren, dass sie mit ihm kooperieren und sich sogar verlieben.
Raus aus der Opferhaltung – rein in die Realität
Die Frage nach dem Warum bringt einen nicht weiter, weil man oft nie die Gelegenheit hat, sie direkt mit dem Täter zu klären. Zudem kreist man weiter nur um das Problem. Es hält Sie in der Opferhaltung. Auch die eigene Unfehlbarkeit in den Mittelpunkt zu rücken ist kontraproduktiv. Zudem verteidigen Sie so den Täten, sie rechtfertigen und legitimieren sein Verhalten.
Wenn sie objektiv darüber nachdenken, würden sie erkennen, dass die Rechtfertigungen, an denen sie festhalten, aus der Luft gegriffen sind. Sich als Opfer schuldig fühlen hält Sie in der Vergangenheit und hat nichts mit der Realität zu tun.
Niemand muss sich von irgend jemand Gewalt gefallen lassen. Wer anderen Gewalt antut, jemanden wissentlich verletzt, Schaden zufügt oder mobbt ist der Täter und muss dafür bestraft werden.
Es ist ganz wichtig, dass Sie als Opfer dahin zurück gelangen, das Geschehen wieder realistisch einzuordnen. Sie sollten erkennen, dass kein Verhalten, keine Unzulänglichkeit eine Gewalttat rechtfertigt. Die Täter müssen zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden.
Das klingt jetzt vielleicht banal, doch ich weiß wie wichtig, aber auch schwer der Wechsel aus der Opferhaltung in die Realität ist. Ich weiß aber auch, dass es soooo weh tut.
Meist bedarf es erst ein einschneidendes Ereignis, einen emotionalen Ausnahmezustand beispielsweise einen gesundheitlichen Zusammenbruch, um wieder zurück ins Leben zu gelangen. Der Realität ins Auge zu sehen ist aber der einzige Weg, um aus dem Teufelskreis von Traurigkeit, Unzulänglichkeit und auch Depression herauszukommen.
Dann erkennt man auch seine eigene Opferhaltung bewusst. Mein Schlüsselerlebnis war mein eigener Gesundheitszustand. Ich habe mich kaum wiedererkannt. Ich war erschüttert und habe der Realität ins Auge geblickt. Kein schönes Gefühl.
Opfer sein ist keine Option
Die Erkenntnis ist der erste Schritt auf einem Weg. Opfer werden ist furchtbar, aber Opfer sein ist keine wirkliche Option für ein gutes Leben nach der Tat. Die Veränderung verlangt Ihnen als Opfer ganz viel ab. Veränderung ist nicht leicht und bedarf Mut.
Ein weiterer Schritt ist, dass Sie sich den Ärger über sich selbst und die eigenen Schuldgefühle bewusst machen. Es heißt also bewusst zu bemerken, was denken Sie da gerade über sich. Immer, wenn die Traurigkeit über die Tat oder die Schuldgefühle hoch kommen, sollten Sie sie bewusst stoppen, innehalten. Mir hat dann immer die Frage geholfen:
- Ist das wirklich wahr?
- Entspricht was ich da gerade fühle der Realität?
Wenn Sie sich die Frage nicht allein beantworten können, weil Sie so verstrickt in Ihren Gedanken sind, fragen Sie Freunde oder Vertraute, die von außen einen neutraleren Blick auf die Situation haben.
Der nächste Schritt ist, wieder Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Auch wenn das gerade in Ihrer Situation sehr schwer ist. Es bedeutet, nach und nach zu lernen, mit diesem Schatten der Vergangenheit zu leben, aber nicht zuzulassen, dass diese Person oder dieses Ereignis weiterhin Macht über Ihr Leben hat. Das Geschehene nach und nach loszulassen wird sie entlasten.
Auf dem Weg aus der Opferfalle werden Sie Rückschläge einstecken müssen. Sie werden vielleicht wieder von Ihrer Traurigkeit übermannt oder mit dem Ereignis konfrontiert beispielsweise durch Medien oder den Prozess. Das ist schwer, aber leider normal. Es passiert so lange, bis es bei Ihnen auf keinen fruchtbaren Boden mehr bei Ihnen fällt. So lange, bis es kaum noch weh tut oder der Schmerz erträglich ist. Versuchen Sie in den Prozess der Veränderung Kontinuität reinzubringen, wenn Sie fallen, „Krönchen rücken“, weiter machen, durchhalten, auch wenn Ihnen immer wieder Steine in den Weg gelegt werden. Sie werden Ihren Weg finden, wenn Sie sich entscheiden, kein Opfer mehr zu sein.
Das Wichtigste ist, machen Sie nicht alles mit sich selbst aus. Reden Sie! Suchen Sie sich Gesprächspartner, Menschen, die Sie verstehen, die Ihnen helfen können. Aber auch Menschen, die Sie fordern, die Sie auffordern, genau hinzusehen, auch wenn es sehr weh tut. Sie können auf Ihrem Weg jede Unterstützung gebrauchen!