Veränderung ist super, doch derzeit bemerke ich immer öfter Fälle von Überkompensation. Wer sich auf den Weg macht aus einer starren Situation ist in Gefahr so viel Gefallen am Neuen, am Veränderungsprozess zu finden, dass er über die Maße kompensiert und es oft nicht bemerkt. Das vernünftige Maß zu finden ist nicht so leicht. Warum?
Veränderung anzugehen braucht Mut. Der erste Schritt ist meist der Schwerste. Es bedarf ein ganz bestimmtes inneres Signal, die Ängste zu überwinden und sich in eine neue Richtung zu entwickeln. Wenn die Vision vom Neuen gemeinsam mit dem Leidensdruck wesentlich größer ist als die Ängste und Kosten, kann Veränderung beginnen, so wie oben in der Formel aufgezeigt.
Die Gefahr der Überkompensation
Wer den ersten Schritt getan hat, ist sehr stolz auf sich und die Veränderung. Glücksgefühle stellen sich ein. Es werden nach und nach weiter Dinge in Frage gestellt und die nächste Veränderungsstufe fällt leichter. Bei Manchem stellt sich dann das Gefühl ein, ganz viel tun/lernen/verändern zu MÜSSEN. Es muss alles anders werden, am Besten genau das Gegenteil vom Jetzt. Glaubenssätze müssen umgedreht werden. Regeln müssen genau ins Gegenteil geändert werden. Strukturen müssen komplett ausgehoben werden. Alles muss ja nur genau anders werden. Ist das Gegenteil die richtige Veränderung?
Der Prozess der Veränderung macht manche Menschen so „süchtig“, dass sie genau das andere Extrem anstreben. Veränderung darf aber nicht bedeuten, von etwas wegzulaufen und Unzufriedenheit auszutauschen durch Rastlosigkeit und Umdrehen. Sie überkompensieren:
Überkompensation … Ausgleich und Ersatz einer … sozialen Unzulänglichkeit (Minderwertigkeitsgefühl) durch das Streben nach Macht, Sicherheit und Überlegenheit. … Für die unterentwickelte Funktion wird eine Ersatzfunktion übermäßig entwickelt.
Wenn beispielsweise jemand eine Veränderung für sich erfolgreich erlebt hat und nun anderen durch die Erfahrung auf einen guten Weg bringt, ist das super. Gerade die Hilfe von Gleichgesinnten macht Veränderung leichter. Daher helfen so viele Selbsthilfegruppen in schwierigen Situationen mehr als Fachleute.
Doch wenn es stringent wird und nur das andere Extrem, beispielsweise das große Glück propagiert wird, bekomme ich ein beklemmendes Gefühl. Ich habe den Eindruck, dass manche Menschen von der schwierigen Situation genau ins Gegenteil schießen ohne sich wirklich zu reflektieren. Wenn das tut, ist das nur Überkompensation und nicht wirkliche Veränderung. Es wird einfach nur etwas neu gemacht ohne sich mit dem Alten wirklich auseinanderzusetzen, sich damit zu beschäftigen, wie man dahin gekommen ist und einen Weg dazwischen zu finden.
Überkompensation in der schönen neuen Arbeitswelt
Gerade beim Thema Überkompensation muss ich jetzt mal einen Ausflug in die Arbeitswelt machen. Seit Jahren verfolge ich die Ideen, die zum Thema New Work entstehen. Ich beobachte, wie der Veränderungsprozess angeschoben und nach außen getragen wird:
Für viele Unternehmen ist derzeit New Work DAS Zukunftsmodell. Viele sprechen von der schönen neuen Arbeitswelt. Hier geht es im Sinne des Erfinders um Selbstständigkeit, Freiheit und Teilhabe an Gemeinschaft sowie um „Arbeit, die man wirklich, wirklich will“ (Bergman). Für mich super Ideen. Doch wenn ich erlebe, dass Unternehmen sich vom einen Extrem, nämlich der fast „diktatorischen Hierarchie“ zu einem dann gemeinnützigen Unternehmen oder einer Genossenschaft entwickeln, finde ich das persönlich sehr schwierig. Plötzlich MUSS alles agil werden und unbedingt alles nur noch für die Gemeinschaft gut sein.
Nicht, das mich jemand falsch versteht, für mich waren in meiner Arbeitswelt immer Themen wie Teamarbeit und jeden mit einbeziehen besonders wichtig. UND ich finde die Idee, die hinter New Work steckt super. Ich störe mich nur daran, wenn jetzt alle mit wehenden Fahnen in die Richtung laufen und laufen und laufen und dabei über das Ziel hinausschießen. Ist für alle Bereiche und Jeden New Work denn überhaupt richtig und möglich?
Würde es nicht reichen, hier Schritt für Schritt voranzugehen. Warum muss es auch in der Veränderung wieder SCHNELLER, WEITER, HÖHER gehen? Kann nicht erst einmal nach und nach ein Unternehmen umgebaut werden? Wäre es nicht sinnvoll das Miteinander zu leben, auszutesten und die neuen Werte zu erarbeiten und zu leben?
New Work bedeutet doch sich auf die Suche nach einer Arbeit in Übereinstimmung mit eigenen Wünschen, Hoffnungen, Träumen und Begabungen zu begeben. Das heißt für mich nicht, nur noch in Träumen und Wünschen und völliger Gemeinschaft zu leben. Ist das der einzige gangbare Weg? Für jedes Unternehmen? Ich denke, die Zeit für nur noch Gemeinschaftsarbeit ist nicht gegeben, das ist für mich genau Überkompensation. Es gilt einen neuen, gemeinsam tragbaren Weg für Unternehmen und auch für die Gesellschaft zu finden. Ein gutes Maß der Veränderung sollten wir suchen. Dann ist schon wirklich viel erreicht.
Das richtige Maß der Veränderung
Veränderung funktioniert, wenn wir wahrnehmen – akzeptieren – auf unser Herz hören – es durchfühlen – aushalten – nachsichtig mit uns selbst sind – loslassen – neu entscheiden – loslaufen und immer wieder diese Schleife drehen.
Zur Veränderung gehört also immer auch die Reflexion. Spüren Sie in sich hinein, ob es so stimmig ist, denn, wenn die Balance nicht stimmt, entsteht ein Problem. Innen und Außen. Die Sucht nach DER Veränderung, nach dem Gegenteil ist nur ein Weg weg von uns.
Übersteigerte Aktivitäten nähren nur unser Ego, wenn sie aus den falschen Gründen stattfinden. Veränderung darf nicht bedeuten, von etwas wegzulaufen und Unzufriedenheit auszutauschen durch eine Rastlosigkeit. Wir benötigen für Veränderung genug Zeit, um alles zu verarbeiten und immer wieder Überprüfung, ob man auf dem richtigen Weg ist. Stillstand, Innehalten und auch mal über lange Zeit etwas ausprobieren ist wichtig für die eigene Erdung.
Wir können bei fast allem immer wieder neu wählen. Nichts ist in Stein gemeißelt. Getroffene Entscheidungen dürfen immer neu getroffen werden. Fragen Sie sich regelmäßig:
- Ist das nur eine Flucht?
- Was genau soll sich verändern?
- Wo stehe ich jetzt?
- Warum bin ich hier?
- Was ist schlecht, was gut?
Und: beziehen Sie auch Ihr Umfeld mit ein. Fragen Sie Ihnen nahestehende Personen, wie sie über die Situation denken. Reflektieren Sie gemeinsam, ob Sie auf einem guten Weg sind oder nur überkompensieren. Auch professionelle Hilfe ist immer eine gute Option. Ein gutes Gespräch hilft immer.